Angst ist wie Schmerz: ein gutes Warnsignal, aber ein schlechter Dauerzustand

Rede zum 1. August 2016 in Winznau

Die Geschichte der modernen Schweiz ist eine Erfolgsgeschichte der Offenheit. Die Eidgenossenschaft war immer dann erfolgreich, wenn sie ihre Werte nicht einfach ängstlich zu verteidigen suchte, sondern sie offensiv und selbstbewusst vertreten hat. Dies müssen wir tun, auch in Zeiten der Unsicherheit. Denn nur damit geben wir den Feinden der Freiheit und den Feinden einer offenen und emanzipierten Gesellschaft die richtige Antwort. Und nicht damit, dass wir uns auf ihr trauriges Spiel einlassen und uns aus Angst selber einsperren.

Wir haben verrückte Tage und Wochen hinter uns. Und damit meine ich nicht das turbulente Wetter mit seinen Temperaturschwankungen, dem vielen Regen und dem Schnee mitten im Juli in den Bergtälern.

Ich rede von der Unübersichtlichkeit und Bedrohlichkeit unserer Welt. Ich meine die Anschläge und Amokläufe in unseren Nachbarländern Frankreich und Deutschland. Ich meine den Putsch und den Gegenputsch in der Türkei.

Besonders die Mordtaten in Nizza, Würzburg, München und Saint-Etienne-du Rouvray erschüttern unser Sicherheitsgefühl. Wenn es jeden treffen kann, ist auch jeder verdächtig. Man beginnt unweigerlich, sein Umfeld gerade an Massenveranstaltungen und beim Reisen misstrauischer zu betrachten. Erste Veranstalter verbieten Rucksäcke an ihren Anlässen.

Es sind tatsächlich verrückte Zeiten – und sie machen Angst. Angst ist wie Schmerz: ein gutes Warnsignal, aber ein schlechter Dauerzustand. So wie wir uns krümmen, wenn uns der Rücken zwickt, so krümmt sich eine Gesellschaft unter Angst. Beides führt dazu, dass man sich im wahrsten Sinne des Wortes verbiegt. Aber Verbogensein ist keine Haltung, sondern ein Haltungsschaden.

Und genau das wollen die Terroristen und Amokläufer. Sie wollen uns Angst machen. Sie wollen, dass wir uns nicht mehr unbeschwert bewegen. Sie wollen, dass wir uns eingeschränkt fühlen. Sie wollen uns verbiegen.

Leider sind auch viele Reaktionen aus der Politik auf die Anschläge und Amokläufe in dieser Hinsicht wenig hilfreich. Sie sind defensiv und spielen – wenn man sie zu Ende denkt – den Terroristen in die Hände. Was haben wir in den vergangenen Wochen nicht alles an unsinnigen Vorschlägen gehört: Ein Nationalrat will uns alle bewaffnet rumlaufen lassen. Ein anderer macht gute Geschäfte mit Pfeffersprays, und mehr als eine Handvoll andere Politikerinnen und Politiker sind sich nicht zu schade, auch für die Anschläge und Amokläufe die Geflüchteten in Sippenhaft zu nehmen. Dabei sind es ja genau der Terror und der Krieg, der Millionen Menschen ihre Heimat verlassen lässt.

Ein Gemeinwesen in permanenten Ausnahmezustand, von Misstrauen geprägt und auf Gefahren fixiert, muss verdorren. Man muss ja nicht gleich so weit gehen wie Benjamin Franklin, einem der Gründerväter der USA, der gesagt hat: «Wer Freiheit für Sicherheit aufgibt, wird beides verlieren.» Das mag in dieser Radikalität übertrieben sein, aber es geht in die richtige Richtung.

Denn was Franklin im 18. Jahrhundert meinte, können wir auch heute beobachten. Mit jedem Anschlag oder Amoklauf, vor allem, wenn sie im Herzen Europas geschehen, wird der Ruf nach weiteren Sicherheits- und Überwachungsmassnahmen lauter. Kein vernünftiger Mensch wird bestreiten, dass Justiz und Polizei die nötigen Werkzeuge zur Verfügung haben müssen, um Anschläge wenn immer möglich zu verhindern. Kein vernünftiger Mensch wird bestreiten, dass Lehrkräfte und Schulbehörden die nötigen Werkzeuge zur Verfügung haben müssen, um Jugendliche, die in eine Parallelwelt aus Kriegsspielen und Ego-Shootern abdriften möglichst frühzeitig zu identifizieren und ihnen die nötige Hilfe zu geben.

Aber kein vernünftiger Mensch kann wollen, dass wir unser öffentliches Leben nach den Drohungen und Taten von einer winzigen Zahl Wirrköpfen gestalten. Denn damit würden wir Terroristen und Amokläufer genau jene Aufmerksamkeit und Wichtigkeit geben, nach der sie sich sehnen. Wir müssen unsere Werte offensiv verteidigen – und dazu gehört auch eine offene Gesellschaft, in der man sich frei bewegen kann. Das meinte Franklin mit seiner Aussage: wenn wir unsere freiheitliche Gesellschaft aus Angst vor Angriffen einsperren, ist es keine freie Gesellschaft mehr. Und das ist ein zu hoher Preis.

Franklin war übrigens kein Naivling, oder wie das heute bei uns so spöttisch-abwertend heisst: «ein Gutmensch». Er hat an der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten mitgeschrieben, war erfolgreicher Diplomat, hat die erste Leihbibliothek der USA gegründet und die erste freiwillige Feuerwehr. Er war ein gesellschaftlich engagierter Liberaler. Und er hat den Blitzableiter erfunden.

Blitzableiter ist ein gutes Stichwort. Lassen Sie mich noch einen Moment dabei verweilen. Wenn es blitzt und donnert, sind wir froh, wenn wir uns auf einen Blitzableiter verlassen können für den Fall, dass der Blitz in unser Haus einschlägt. Auf die Gesellschaft übertragen ist es leider nicht ganz so einfach. Oft verfallen wir in stürmischen Zeiten in Hektik, statt kühles Blut zu bewahren. Das ist bis zu einem gewissen Grad verständlich, aber es ist nicht unbedingt vernünftig. Die Gefahr ist gross, dass wir das sprichwörtliche Kind mit dem Bade ausschütten. Statt einem schlanken und effizienten Blitzableiter bauen wir dann etwa einen Käfig, der uns im gleichen Masse einsperrt, wie er tatsächliche oder vermeintliche Angreifer aussperrt. Oder, wie es der grosse Schweizer Dichter Friedrich Dürrenmatt einmal so trefflich formuliert hat: Plötzlich weiss man nicht mehr, wer Insasse ist und wer Wärter.

Die Geschichte der modernen Schweiz ist eine Erfolgsgeschichte der Offenheit. Die Eidgenossenschaft war immer dann erfolgreich, wenn sie ihre Werte nicht einfach ängstlich zu verteidigen suchte, sondern sie offensiv und selbstbewusst vertreten hat. Unsere Vorväter und Vormütter haben vier Sprachregionen zu einem Land gemacht, haben aus einem rohstoffarmen Land eine der reichsten Volkswirtschaften der Welt erschaffen, haben mit Mut und Chuzpe technische Meisterleistungen vollbracht, die zu Beginn der Arbeiten als Spinnereien abgetan wurden. Die Geschichte der Schweiz ist eine Geschichte des Willens und des Wollens. Weniger gut benommen hat sich unser Land eigentlich nur in jenen Phasen, in denen ängstlich (und geschäftstüchtig) auf die Interessen fremder Mächtiger geschielt wurde. Doch das hat uns immer wieder eingeholt und das Heulen mit den Wölfen hat im Rückblick unserer Gesellschaft als Ganzes immer mehr geschadet als genützt.

Aber was sind denn eigentlich diese Werte, die unsere Willensnation ausmachen? Darüber ist viel gestritten worden, darüber werden wir noch viel streiten. Vor allem um die Details und die Umsetzung im politischen Tagesgeschäft. Und das ist gut so, das gehört zu einer offenen Gesellschaft.

Doch trotzdem sind unsere Werte nicht einfach beliebig, kein Jekami und auch nicht einfach so nach Lust und Laune unter tagespolitischen Gesichtspunkten verhandelbar. Die Präambel unserer Bundesverfassung ist ein ganz wunderbarer Text, man kann sie fast nicht zu oft lesen. Gerade in schwierigen Zeiten. Lassen Sie sie mich vorlesen:

Im Namen Gottes des Allmächtigen!

Das Schweizervolk und die Kantone,

in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,

im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,

im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,

im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,

gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen,

geben sich folgende Verfassung…

Einverstanden, das mag in unseren heutigen Ohren ein bisschen schwülstig tönen, aber es bringt sehr gut auf den Punkt, was unser Land ausmacht oder ausmachen sollte. Die Präambel bringt die Werte auf den Punkt, die wir verteidigen müssen – gegen Terror und gegen manche zeitgeistigen Strömungen. Wir dürfen uns nicht von Terroristen und Amokläufern einschränken lassen. Und auch nicht von jenen, die unsere Angst vor diesen instrumentalisieren wollen. Wir müssen unsere Werte verteidigen, auch in Zeiten der Unsicherheit. Denn nur damit geben wir den Feinden der Freiheit und den Feinden einer offenen und emanzipierten Gesellschaft die richtige Antwort. Und nicht damit, dass wir uns auf ihr trauriges Spiel einlassen und uns aus Angst selber einsperren.

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen einen schönen 1. August – und unserem Land ein neues Jahr ohne Angst und ohne Abschottung, voller Selbstbewusstsein, aber ohne Überheblichkeit. Gehen wir die Herausforderungen offen und mutig an, wir sind damit bisher immer gut gefahren.

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