Sie hat zuerst die Gewerkschaften und dann die ganze Schweiz verändert: Christiane Brunner öffnete vielen anderen Frauen die Türen zur Macht – und hat selbst einen hohen Preis dafür bezahlt.
von Kaspar Surber und Daria Wild, WOZ Die Wochenzeitung
Das Land war in Aufruhr. Am Mittwoch, dem 3. März 1993, hatten sich gegen tausend Frauen vor dem Bundeshaus versammelt und im Schneetreiben auf die Wahl von Christiane Brunner gehofft. Doch das Parlament desavouierte die offizielle SP-Kandidatin und wählte ihren Parteikollegen Francis Matthey in den Bundesrat. Schneebälle flogen gegen das Bundeshaus, mit einem Wegweiser wurde an die Türen gehämmert, der Parlamentspräsident liess den Platz von der Polizei mit Tränengas räumen.
Doch die Aufgebrachten verschwanden nicht. Überall in der Schweiz, ob in der Stadt oder auf dem Land, quer durch Parteien und Generationen, versammelten sie sich in den folgenden Tagen zu Kundgebungen. In Sarnen etwa waren es 170 Frauen, die von den Obwaldner Volksvertretern Red und Antwort verlangten. In Zürich strömten 8000 Unterstützer:innen auf den Münsterplatz, als Christiane Brunner auftrat: Zu einem Symbol sei sie geworden, sagte sie, dabei sei sie nur eine einfache Frau, aber eine entschlossene und versöhnliche: «Ich werde bis am Ende weiter kandidieren, mit eurer Unterstützung vielleicht gewinnen und, ohne selbst betroffen zu sein, auch verlieren. Weil ich sicher bin: Wir verlieren nicht lange.»
Am vergangenen Freitag ist Christiane Brunner im Alter von 78 Jahren gestorben. Spricht man mit politischen Weggefährt:innen, liest man sich durch die Zeitungsartikel jener Zeit, schaut sich die Fernsehbeiträge an, wird die Achtung gross vor dieser Frau, die zuerst die Gewerkschaften und später das ganze Land veränderte. Gleichzeitig erhöht sich das Unbehagen gegenüber der Geschichte der modernen Schweiz und der männlichen Herrschaft darin über Frauen – besonders was Frauen angeht, die aus den unteren Gesellschaftsschichten kommen.
Anwältin und Gewerkschafterin
Geboren am 23. März 1947, wuchs Christiane Brunner in armen Verhältnissen in Genf auf. Die Mutter musste nach dem frühen Tod des Vaters ihre beiden Kinder als Schneiderin durchbringen. «Ihre Mutter träumte davon, dass Christiane einmal Migros-Kassierin wird und damit über ein geregeltes Einkommen verfügt. Eine Lehrerin hat sie dann ermutigt, sich um ein Stipendium für ein Studium zu bewerben», erinnert sich heute Ruth Dreifuss, die Brunner bei der SP in Genf kennengelernt hat. Sicher sei sie durch ihre Herkunft sozial sensibilisiert gewesen, prägend war aber der Aufbruch von 1968, der Brunner zur Feministin werden liess: Sie trennte sich nach einer frühen Eheschliessung von ihrem Mann, weil dieser ihr nach der Geburt eines Sohnes die weitere Berufsbildung verwehren wollte.
Brunner erwarb das Anwaltspatent und gründete den Genfer Ableger des Mouvement de libération des femmes mit, der Frauenbefreiungsbewegung. Als junge Anwältin erkämpfte sie vor dem Bundesgericht für eine Neuenburger Primarlehrerin die Lohngleichheit. Als «Meilenstein» bezeichnet Gleichstellungsexpertin Claudia Kaufmann diesen Erfolg: Brunner habe sich bei der Klage auf das Übereinkommen 100 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO berufen – und damit die Schweizer Rechtsprechung in einen universellen Zusammenhang gestellt. Gleichzeitig habe das Urteil eine Piste gelegt für die Einführung der Lohngleichheit in der Schweiz, die 1981 mit dem von der Stimmbevölkerung angenommenen Gleichstellungsartikel in der Verfassung verankert wurde. Kaufmann beschreibt Brunner als «kluge und praxisorientierte Juristin, die häufig originelle Lösungen fand».
Brunners Ziel, die Lebensumstände der Beschäftigten zu verbessern, brachte sie zu den Gewerkschaften: Anfang der achtziger Jahre wurde sie Präsidentin des Verbands des Personals öffentlicher Dienste (VPOD), danach stieg sie als Gewerkschaftssekretärin bei der mächtigen Metall- und Uhrengewerkschaft Smuv ein, wo man sie 1992 an die Spitze wählte. «Beim Zusammenkommen der feministischen Bewegung mit den Gewerkschaften hat Christiane eine ganz wesentliche Rolle gespielt», sagt Ruth Dreifuss, die selbst Zentralsekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes war. «Sie hat die Öffnung der Gewerkschaften, die damals Männerbastionen waren, vorangetrieben – und die Gleichstellung von Mann und Frau, insbesondere die Frage der Lohngleichheit, ins Zentrum der Auseinandersetzungen gerückt.»
Als alles stillstand
Diese gipfelten am 14. Juni 1991 – also genau zehn Jahre nach Annahme des Gleichstellungsartikels – im bis heute wichtigsten politischen Ereignis für die hiesige Frauenbewegung: Unter der Parole «Wenn Frau will, steht alles still» traten eine halbe Million Frauen in den Streik – und protestierten unter anderem gegen die Verzögerungstaktik des Bundesrats bei der Gleichstellung.
Besonders gross war das Lohngefälle bei den Arbeiterinnen der Uhrenindustrie im jurassischen Vallée de Joux. Von einer von ihnen, Liliane Valceschini, war die Idee für den Streik ausgegangen, und in Brunner hatte sie eine zentrale Mitstreiterin für das Anliegen gefunden. «Am wichtigsten war mir, dass die Frauen den Streik als ihre eigene Aktion begreifen und selber aktiv werden. Es war ein gigantischer Aufwand», erinnerte sich Brunner in einem späteren Interview mit der Gewerkschaftszeitung «work».
Die Historikerin Elisabeth Joris ist überzeugt, dass es den Streik ohne die Smuv-Sekretärin nie gegeben hätte. «Streik bedeutete bis dahin, dass Bauarbeiter aufhören zu arbeiten. Dass dazu Frauen gehören, und zwar alle Frauen, nicht nur die in der Fabrik, auch die daheim – dafür hat Brunner den Blick geöffnet.» Im Gewerkschaftsbund habe die Idee für epische Diskussionen gesorgt, erinnerte sich Brunner im Interview: Die Männer hätten Angst gehabt, «dass wir Frauen das Wort ‹Streik› ins Lächerliche ziehen würden».
Man kann es aber auch umgekehrt sehen, wie Paul Rechsteiner, damals Nationalrat und später Präsident des Gewerkschaftsbunds, anmerkt. Der Smuv sei behäbig gewesen, ins System des Arbeitsfriedens integriert. «Der Streik als Mittel wurde in den neunziger Jahren erst wieder entdeckt, allein das Wort hat eine hohe Wirkung. Für die Herrschenden war es eine Provokation.» Der Frauenstreik sei ein Leuchtturm gewesen, sagt Rechsteiner.
Kurz darauf wurde Brunner in den Nationalrat gewählt. Und schon eineinhalb Jahre später nach dem Rücktritt von René Felber erfrechte sich das Arbeiter:innenkind, die Mitgründerin der Frauenbefreiungsbewegung, die Streikanführerin, für den Bundesrat zu kandidieren. Im Parlament stiess sie damit auf heftige Ablehnung, die oft nur feige hintenrum geäussert wurde. Ein anonymes «Komitee für die Rettung der Moral unserer Institutionen» verschickte einen Brief an die Medien, dass kompromittierende Nacktfotos von Brunner existieren würden und sie eine Schwangerschaft abgebrochen habe, was damals noch nicht regularisiert war. Das Boulevardblatt «Blick» veröffentlichte die Behauptungen, die Schlammschlacht war eröffnet.
Wobei das Wort den Vorgang verharmlost: Die Anwürfe, nie belegt, waren ein öffentlicher Übergriff auf Brunners Körper und das Recht auf Selbstbestimmung. Wie Brunner überhaupt in den Medien dauernd auf ihr Aussehen reduziert wurde, auf ihr lautes Lachen, die blonden Locken. Sie könne nicht gewählt werden, weil sie wie eine «Serviertochter» aussehe, hiess es im Bundeshaus vor der Wahl. Diskriminierung nach Geschlecht und Klasse überkreuzten sich.
Es sei eine machistische Welt gewesen, sagt Rechsteiner, der damals im Nationalrat politisierte. «Eine Männergesellschaft, wie man sie sich heute kaum noch vorstellen kann. Die Sprüche, der Ton, der geherrscht hat – er war noch schärfer gegen eine Frau, die von unten kam.»
Die Nichtwahl und ihre Effekte
Dann kam der 3. März 1993. Wie viele andere fuhr auch Elisabeth Joris zum Bundesplatz, protestierte gegen den Ausgang der Wahl. «Dass Brunner nicht gewählt wurde, hatte nichts mit Kompetenz zu tun, sondern mit der bürgerlichen Dominanz gegenüber der SP. Und mit der fundamentalen Ablehnung von Frauen.» Eine klassen- und frauenfeindliche Nichtwahl sei es gewesen, sagt Joris. «Dieses Unvermögen der Männer, ihre Privilegien abzugeben, zwei Jahre nach dem Streik – die Heftigkeit der Reaktionen war enorm.»
In der WOZ hielt Redaktorin Marie-Josée Kuhn die Parallelen zwischen dem Frauenstreik und der Bewegung um die Bundesrät:innenwahl fest. Das verbindende Gefühl: «Nicht länger alles einfach schweigend hinzunehmen.» Nicht so wie zehn Jahre zuvor, als Otto Stich statt der ersten Bundesratskandidatin Lilian Uchtenhagen gewählt wurde – und sich die SP für den Verbleib in der Regierung entschied.
1993 dauerte der Aufstand sieben Tage: Der gewählte Francis Matthey bedingte sich erst eine Bedenkfrist aus, erklärte dann seinen Rückzug. Brunner beriet sich mit Ruth Dreifuss, die für sie die Kampagne koordiniert hatte, mit SP-Präsident Peter Bodenmann und Parteisekretär André Daguet. «Christiane überlegte sich, nochmals alleine anzutreten. Doch wir erachteten das Risiko als zu gross, dass die SP in diesem Fall einen Sitz verliert», sagt Dreifuss. Sie sei rückblickend immer noch sicher, dass es so gekommen wäre. «Denn das Parlament war beleidigt. Ein Kandidat, den das Parlament gewählt hatte, durfte seine Wahl auf Druck der Partei und der Frauen nicht annehmen.»
So kam es, dass die Fraktion Dreifuss neben Brunner aufstellte. Der zweite Wahltag fand am 10. März statt, draussen auf dem Bundesplatz hatten sich diesmal 10 000 Frauen und einige Männer versammelt. «Ich war nicht glücklich, dass ich anstelle von Christiane gewählt wurde», erinnert sich Dreifuss. «Aber ein paar Stunden später dachte ich: Eine tolle Gelegenheit ist es trotzdem, also Ärmel hoch und an die Arbeit.» Brunner bekräftigte später mehrmals, ihre Nichtwahl habe mehr bewegt, als sie als Bundesrätin hätte bewirken können.
Tatsächlich spielte der nach ihr benannte «Brunner-Effekt»: Insbesondere die bürgerlichen Parteien CVP und FDP seien unter Druck gekommen, Massnahmen zur Förderung der Frauen zu ergreifen, hält der Politikwissenschaftler Werner Seitz im Buch «Auf die Wartebank geschoben» zur politischen Gleichstellung in der Schweiz fest. Bei den Wahlen 1995 stieg der Frauenanteil im Nationalrat um vier Prozentpunkte auf 21,5 Prozent. Besonders stark war der Brunner-Effekt im Ständerat – in den auch Christiane Brunner gewählt wurde – und bei den Kantonsregierungen.
Im Bundesparlament wussten die Männer fortan, dass sie sich der Gleichstellung nicht mehr so einfach widersetzen konnten: 1995 wurde das Ausführungsgesetz zum Gleichstellungsartikel verabschiedet, darin wurde das Verbot sexueller Belästigung verankert. Das sei «der wichtigste und bis heute nachhaltigste Brunner-Effekt», sagt Elisabeth Joris.
Brunner prägte auch die Zukunft der Gewerkschaften. 1996 gründeten der Smuv und die Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) die «kleine unia», die den wachsenden Dienstleistungssektor vertreten und insbesondere Frauen und Teilzeitangestellte aus Verkauf und Gastgewerbe organisieren sollte. «Es war der Anfang der Neuaufstellung der Gewerkschaften mit der späteren Grossgewerkschaft Unia», sagt Rechsteiner. «Ohne Christiane Brunner wäre das nicht möglich gewesen.»
Brunner, die Weiterkämpferin, die «Mutmacherin», wie Ruth Dreifuss sie nennt, wurde auch erfolgreiche SP-Parteipräsidentin. Doch so souverän, wie sie nach ihrer Nichtwahl agierte, so bitter muss diese doch für sie gewesen sein. Ein versöhnlicher Schluss lässt sich für ihre Geschichte denn auch nicht richtig finden. Die Kampagne gegen Brunner sei ein Skandal, der noch immer nicht politisch aufgearbeitet worden sei, sagt Joris. Der Ton im Parlament mag seitdem ein anderer geworden sein. Mit gerade einmal zwei Bundesrätinnen geben sich trotzdem die meisten zufrieden. Und die Arbeiterinnen im Vallée de Joux verdienen noch immer weniger als die Männer.