Während die SP60+ ihre jährlichen Überlegungen dem Gesundheitssystem widmet, erinnere ich mich, in der Ausgabe der Zeitung 24heures vom 28. Februar gelesen zu haben, dass Professor Arnaud Perrier, der neue Präsident der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, feststellt, dass «das schweizerische Gesundheitssystem an Fahrt verliert». Er führt insbesondere den Mangel an Präventionsmassnahmen an.
von André Liechti, Delegierter der SP60+ Kanton Waadt
Zur gleichen Zeit erfuhren wir in der Zeitung Le Temps, dass das Bundesamt für Gesundheit 11 Millionen Franken einsparen muss. Diese vom Bundesrat und dem Parlament beschlossenen Sparmassnahmen werden insbesondere die Prävention betreffen. Ich wage zu hoffen, dass unsere Genossin Elisabeth Baume-Schneider mit Zähnen und Klauen gegen dagegen gekämpft hat, weil dies einer kohärenten und effizienten Gesundheitspolitik zuwiderläuft.
Wenn sich mir grundlegende politische Fragen stellen, hinterfrage ich oft die Schriften eines politischen Denkers und Philosophen, der mich seit den 1970er Jahren begleitet: André Gorz war 1964 zusammen mit Jean Daniel Mitbegründer der Wochenzeitung Le Nouvel Observateur, für die er unter dem Pseudonym Michel Bosquet schrieb. Wer mehr über das Leben und Werk von André Gorz erfahren möchte, findet bei Willy Gianinazzi ein schönes Buch über ihn, leider nicht ins Deutsche übersetzt, sondern ins Englische.
André Gorz hat das vierte Kapitel seines Buches unter dem Titel «Medizin, Gesundheit und Gesellschaft» der Frage der Gesundheit gewidmet. Er leitet seine revolutionären Überlegungen ein, indem er erklärt, er wolle:
«die Menschen dazu bewegen, nicht alle Medikamente und medizinische Versorgung abzulehnen, sondern die Macht über ihre Krankheit, ihren Körper und ihren Geist zurückzugewinnen. Sie sollen alles in Frage stellen, was sie in ihrem täglichen Leben krank macht: die Schule, die Fabrik, das Eigenheim auf Kredit, die Partnerschaft usw.»
Und er wagt zu behaupten:
«Indem die Gesellschaft die Menschen dazu bringt, ihre Krankheit zum Arzt zu bringen, lenkt sie sie davon ab, die grundlegenden und dauerhaften Gründe für ihr Unwohlsein anzugehen. Indem die Medizin Krankheiten als zufällige und individuelle Anomalien behandelt, verschleiert sie ihre strukturellen Gründe, die sozialer, wirtschaftlicher und politischer Natur sind. Sie wird zu einer Technik, um das Inakzeptable zu akzeptieren.»
Dieses Kapitel aus «Ökologie und Politik» erneut zu lesen, war für mich eine hervorragende Vorbereitung auf das Thema unserer Mitgliederkonferenz, die erneut in Bern im Konferenzzentrum der Gewerkschaft Unia stattfand.
Etwa 100 Mitglieder entschieden sich dafür, diesen sommerlichen Freitag der Reflexion über das Thema «Das Gesundheitssystem ist ein Service public» zu widmen. Obwohl dieses Thema uns alle direkt betrifft und die eingeladenen Redner, welche die verschiedenen Aspekte des Themas behandelten, qualifizierte Experten sind, bin ich einmal mehr erstaunt über die geringe Beteiligung. Denn schliesslich sind von den 12’000 Mitgliedern der SP Schweiz, die über 60 Jahre alt sind, 3’500 Mitglieder der SP60+, deren Mitgliederzahl im Jahr 2024 um 25 Prozent gestiegen ist. Vielleicht könnte eine Umfrage unter den Mitgliedern eine Antwort auf das Geheimnis der geringen Teilnahme an unseren Konferenzen geben.
Unsere Co-Präsidentin, Rita Schmid, begrüsste die Anwesenden und gedachte am Vorabend des feministischen Streiks vom 14. Juni kurz und eindringlich unserer Genossin Christiane Brunner. Die Anwesenden legten einen Moment des Schweigens ein, um ihrer und unserer Genossen Hansjürg Rohner, Mitglied der Geschäftsleitung und Co-Präsident der Arbeitsgruppe «Sozialpolitik», und Idda Maier-Widmer, Delegierte der SP60+ Thurgau, zu gedenken, die vor einigen Monaten verstorben waren.
Nach den obligatorischen statutarischen Geschäften lud unser Co-Präsident, Dominique Hausser, nach einer kurzen Einführung in das Thema der Tagung Prof. Dr. med. et phil. Milo Puhan, Direktor des Instituts für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich (EBPI), und Präsident der Leitungsgruppe des Nationalen Forschungsprogramms NFP74 «Gesundheitsversorgung», uns die wichtigsten Ergebnisse des Projekts zu präsentieren.
Diese Forschung umfasste 34 Projekte über einen Zeitraum von fünf Jahren mit einer Finanzierung von 20 Millionen Franken. Hauptsächlich auf die Versorgung von Patienten mit chronischen Krankheiten, die Langzeitpflege benötigen, ausgerichtet, wurden zahlreiche Aspekte insbesondere mit dem Ziel behandelt, die Patientenbeteiligung zu fördern, die Ausbildung des Personals zu unterstützen, die Unterstützung zu Hause zu verbessern sowie die Kommunikation und den Dialog zwischen allen Akteuren zu fördern. Die durchgeführten Forschungsarbeiten zeigen anhand zahlreicher Beispiele, dass die Pflege effizienter und patientenorientierter gestaltet werden kann. Die Ergebnisse dieses umfangreichen Forschungsprojekts können von der Website des NFP 74 heruntergeladen werden. Sie bieten Lösungen für Verbesserungen, deren Umsetzung ohne einen Rahmen auf Bundesebene jedoch schwierig ist, da die Vielfalt der kantonalen Systeme so gross ist.
Anschliessend ging der Ehrenprofessor Dr. med. Dr. phil. Arnaud Perrier, Präsident der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften und ehemaliger medizinischer Direktor des Universitätsspitals Genf, auf die Frage nach dem Nutzen und der Notwendigkeit eines Bundesgesetzes über die Gesundheit ein. Er stellt fest, dass sich das Gesundheitssystem in einer Krise befindet. Es ist sehr teuer und wenig koordiniert. Das Angebot zwischen gut entwickelten und weniger entwickelten Regionen ist sehr unterschiedlich. Der Verwaltungsaufwand wird immer grösser. Die Digitalisierung der Daten ist unzureichend. Es kommt zu einer Übermedikalisierung. Die Schweiz ist das Land, in dem die Einwohner am meisten aus eigener Tasche bezahlen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dieses System nicht nachhaltig ist und es an einem föderalen Rahmen fehlt. Die Akademie hat sich die Frage gestellt, ob die Einführung eines Bundesgesetzes sinnvoll ist. Um hier Klarheit zu schaffen, hat sie Unisanté einen Forschungsauftrag erteilt.
Diese Forschung präsentierte Professorin Dr. med. Dr. phil. Stéfanie Monod, Titularprofessorin an der Universität Lausanne, Chefärztin und Co-Leiterin der Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitssysteme von Unisanté. Die Rednerin erinnerte daran, dass der Staat die Gesundheit als wertvolles Gut schützen und der Bevölkerung im Krankheitsfall finanziellen Schutz bieten müsse. Sie beobachte im derzeitigen Gesundheitssystem eine Überentwicklung in den technischen Tätigkeiten, die den Markt für «Gesundheitsreparaturen» begünstige, der eine Quelle grosser Profite sei. Das System ist sehr teuer und führt zu einem Verzicht auf Gesundheitsversorgung. Es neigt dazu, sich nur mit dem Zugang zur Gesundheitsversorgung zu befassen und vernachlässigt andere Aspekte, wie z. B. die Prävention. Angesichts der steigenden Kosten versucht das System, diese einzudämmen, was zu einem enormen Verwaltungsaufwand führt. Um die Alterung der Bevölkerung und damit den steigenden Bedarf an Langzeitpflege zu bewältigen, ist das derzeitige System mangelhaft. Im Jahr 1991 kamen auf einen älteren Menschen fünf Erwerbstätige, im Jahr 2019 vier und im Jahr 2023 drei. Es geht darum, das Gesundheitssystem, das allzu krankenhauszentriert ist, wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Um dieses System zu erhalten, sind die dem Bund von der Verfassung gegebenen Kompetenzen auf einige spezifische Bereiche beschränkt. Die Kantone sind in ihrer Vielfalt verantwortlich und zuständig. Es gibt keinen Rahmen für die Prävention. Die Kommunikation ist rudimentär (z. B. das Patientendossier). Die Ausbildung von Allgemeinmedizinern ist den Kantonen anvertraut, die keinen Auftrag haben, für die gesamte Schweiz auszubilden. Es gibt keine nationale Regulierung für die Ärzteplanung. Angesichts der verschiedenen Lobbys, die in diesem Bereich agieren, gibt es keine aus Patienten und Bürgern bestehende Lobby, die ein Gegengewicht bilden könnte. Und es gibt viele weitere Aspekte, welche die Unzulänglichkeit des derzeitigen Systems aufzeigen.
Die Ergebnisse der von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften in Auftrag gegebenen Unisanté-Studie Analyse der Steuerung des Schweizer Gesundheitssystems und Vorschlag eines Bundesgesetzes über die Gesundheit haben die Akademie davon überzeugt, dass es sinnvoll ist, ein Rahmengesetz zur Gesundheit in die Verfassung aufzunehmen. Es würde Gerechtigkeit, Zugang, Qualität und Effizienz sicherstellen und die Finanzierungsregeln festlegen. Es würde die Aufteilung zwischen Bund und Kantonen festlegen. Sie würde die Beteiligung von Bürgern und Patienten sicherstellen. Es würde die Verantwortung und Rechenschaftspflicht der Akteure definieren. Es würde eine Ressourcenplanung in den Gesundheitsberufen erzwingen. Es würde ein effizientes Informationssystem einführen. Professor Perrier hat einen Entwurf für Artikel 116a vorgelegt, der diese verschiedenen Kriterien erfüllt: Für ein Bundesgesetz über die Gesundheit. Stellungnahme der SAMW (23.05.2024)
Die Debatte mit den zahlreichen betroffenen Akteuren ist eröffnet. Grundsätzlich scheinen sich alle einig zu sein, doch wenn es um die Details geht, wird es kompliziert. Es sollte möglich sein, die Macht der Lobbys zu minimieren und den Einfluss der Ideologie zu verringern.
Nach diesen sehr interessanten Präsentationen, deren Informationsdichte unsere Aufmerksamkeit forderte und unsere alternden Neuronen beanspruchte, begeisterte uns der Chor «Dancing Old Ladies & Singing Old Ladies» mit einer heiteren und belebenden Interpretation ihres sehr engagierten feministischen Repertoires.
Nach dem Essen stellten sich die Mitglieder in kleinen Gruppen die Frage, wie man politisch handeln könnte, um die Schwierigkeiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung zu lösen, dem Personalmangel zu begegnen und die Gesundheitspolitik zu steuern. Die verschiedenen Vorschläge werden von der Projektgruppe «Das Gesundheitssystem ist ein Service public» der SP60+ aufgegriffen, die damit beauftragt ist, ein Positionspapier zu verfassen. Mehrere Themen wurden genannt: öffentliche Versicherungskasse; Numerus clausus; Patientendossier; Interdisziplinarität; Ausbildung von Allgemeinmedizinern; Franchise-Prinzip; einkommensabhängige Prämie; keine Politik des Pflasters, sondern ein neues Gesundheitssystem; die SP Schweiz sollte dies zu einem Schwerpunktthema machen.
Am Ende seines Vortrags verglich Professor Perrier das Schweizer Gesundheitssystem mit der Titanic, die sich langsam und unaufhaltsam dem schicksalhaften Eisberg nähert. Es sei dringend notwendig, das Schiff zu manövrieren und den Kurs zu ändern. Aber wer wird das Ruder wieder übernehmen?
Zum Abschluss der Diskussion verabschiedeten die Mitglieder eine Resolution, die bekräftigt, dass das Gesundheitssystem ein Service public sein muss.
Das Ende der Konferenz war einigen statuarischen Angelegenheiten und der Wahl des Präsidiums der SP60+ für die nächsten zwei Jahre gewidmet, das erneut im Co-Präsidium von Rita Schmid und Dominique Hausser wahrgenommen wird und wofür herzlich bedankt und applaudiert wurde.
Für die SP60+Waadt verzichtete Francine Jeanprêtre darauf, ihr langjähriges Mandat als frei gewählte Delegierte weiterzuführen, während Reto Bablan sich entschied, seine Aufgabe weiterzuführen und wiedergewählt wurde.
Es gibt Mitglieder, denen man herzlich danken muss, da ihr Engagement so intensiv und beispielhaft ist. Unsere Co-Präsidentin fand die richtigen Worte, um Ruth Schmid, Vorsitzende der Arbeitsgruppe «Gesundheit» und Mitglied der Geschäftsleitung, sowie Heinz Gilomen, Mitglied der Geschäftsleitung und der Arbeitsgruppe «Sozialpolitik», den verbindlichsten Dank der SP60+ auszusprechen. Auch wenn sie und er nach vielen Jahren unermüdlichen Einsatzes ihre Ämter niederlegen, wissen wir, dass wir bei der Ausarbeitung unserer künftigen Vorschläge weiterhin auf ihre grosse Erfahrung und ihr Fachwissen zählen können.
Im Zeitpunkt des traditionellen Aperitifs, als ich meine Genossen beobachtete und an André Gorz dachte, fragte ich mich, wie viele von uns das Glück haben, ein Eheleben wie das von ihm gelebte zu führen oder geführt zu haben. Ich kann nicht widerstehen, Sie dazu einzuladen, die bewegende Hommage des Autors an seine Lebensgefährtin Dorine in seinem «Brief an D.» zu lesen oder wieder zu lesen.
André, geboren als Gerhart Hirsch in Wien, ist der Sohn eines jüdischen Vaters, der 1930 seinen Namen in Horst geändert hat. Im Sommer 1947 lernt er in Lausanne, wo er an der Universität Chemie studiert, Dorine, eine junge Engländerin mit dem Namen Doreen Keir, kennen. Sie ist 23 und er 24 Jahre alt.
Wir schreiben das Jahr 2006. Der 83-jährige Gorz beginnt seine Liebeserklärung mit folgenden Worten:
Du wirst zweiundachtzig Jahre alt. Du bist um sechs Zentimeter geschrumpft, wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo und bist immer noch schön, anmutig und begehrenswert. Wir leben seit achtundfünfzig Jahren zusammen und ich liebe dich mehr denn je.
Doch Dorine leidet leider an einer degenerativen Krankheit und an Krebs. André und Dorine beschliessen, gemeinsam zu sterben. Er schreibt auf der letzten Seite seines Brief an D. – Geschichte einer Liebe.
Wir würden beide gerne den Tod des anderen nicht überleben müssen. Wir haben uns oft gesagt, dass wir, falls wir unmöglich ein zweites Leben haben sollten, dieses gemeinsam verbringen möchten.
Am 22. September 2007 liegt eine an Freunde gerichtete Mitteilung in guter Sicht auf dem Tisch. Darauf ist zu lesen:
Gérard Horst, genannt André Gorz, und seine Frau Dorine haben sich im Tod vereint, wie sie sich für das Leben vereint hatten.