Von Pia Wildberger
Das Unglück geschah vor 60 Jahren, doch sind gewisse Vorgänge bis heute nicht restlos geklärt. Am 30. August 1965 brach die Gletscherzunge des Allalin ab und begrub das Barackendorf unter den Eismassen, in dem die Arbeiter hausten, die den Staudamm von Mattmark erbauten. 88 Menschen kamen ums Leben. Die meisten waren italienische Saisonniers aus der Region Belluno. Wie konnte das passieren? Bereits wenige Tage nach dem Unglück brachten höchste Kreise, darunter der Walliser Bundesrat Bonvin, wider besseren Wissen die These der Unvorhersehbarkeit des Unglücks ein. Wegen Unvorhersehbarkeit sprach das Walliser Kantonsgericht sieben Jahre später alle Angeklagten frei und verfügte, die Kosten für die Berufung zur Hälfte den Opferfamilien aufzuerlegen. In Italien führte das Urteil zu einem Aufschrei, und das Unglück ist bis heute unvergessen.
2022, 50 Jahre nach dem Urteil, erhielt die Öffentlichkeit Zugang zu den Akten. Historiker:innen und Medienschaffende stellten fest: Es war vor allem die menschenverachtende Profitgier, die das Baukonsortium dazu verleitete, auf Messungen der Eisbewegungen zu verzichten und die Baracken ausgerechnet unterhalb des Gletschers zu erstellen.
Diese sowie zahlreiche weitere Aspekte des Unglücks – etwa die Rolle von Frauen auf der Baustelle und die Folgen des unmenschlichen Saisonnierstatuts – hat die Historikerin Elisabeth Joris zum 60. Jahrestag aufgearbeitet. Nun liegt das Buch «Mattmark 1965» vor. Journalist Kurt Marti zeichnet darin minutiös die Verbreitung der Unvorhersehbarkeitsthese nach, und Gewerkschafter Vasco Pedrina zeigt auf, welche Rolle das Unglück in der Gewerkschaftsgeschichte spielte. Viele Fotografien ergänzen die sorgfältigen Ausführungen. Eine sehr lesenswerte Aufarbeitung dieses Skandals!
Mattmark 1965, von Elisabeth Joris (Hg.), Rotpunktverlag