Von Christine Goll
Christiane Brunner hat ihre Herkunft nie vergessen. Sie kam von ganz unten. Ihre Mutter brachte die beiden Kinder nach dem frühen Tod des Vaters alleine als Schneiderin durch. Dank einem Stipendium konnte sie studieren und wurde Anwältin. Ihr berufliches und politisches Engagement orientierte sich an diesen biografischen Erfahrungen. Der politische Aufbruch von 1968 prägte sie, entscheidend war jedoch die neue Frauenbewegung. Christiane war Mitbegründerin des Mouvement de libération des femmes (MLF) in Genf, der Frauenbefreiungsbewegung (FBB), die gesamtschweizerisch aktiv war.
«Wenn Frau will, steht alles still»
Wir begegneten uns zum ersten Mal Anfang der 1980er-Jahre im VPOD, der Gewerkschaft des Personals öffentlicher Dienste, deren Präsidentin sie damals war. Ihre ruhige Stimme und ihr selbstsicheres Auftreten haben mich schon damals beeindruckt. 1989 stieg sie als Gewerkschaftssekretärin beim Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV) ein, den sie von 1992 bis 2000 präsidierte. Die Uhrenarbeiterinnen aus dem Vallée de Joux, mit denen sie für die Lohngleichstellung kämpfte, lagen ihr besonders am Herzen. Eine von ihnen, Liliane Valceschini, hatte die Idee für einen Streik. Christiane setzte sich beim SMUV – einer Männerbastion, die den Arbeitsfrieden hochhielt – erfolgreich für diese Idee ein und löste damit eine der eindrücklichsten landesweiten politischen Aktionen aus. Der Frauenstreik vom 14. Juni 1991 war die grösste öffentliche Mobilisierung seit dem landesweiten Generalstreik von 1918.
Gegen alle Widerstände der Gewerkschaftsmänner – die Zustimmung beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) fiel äusserst knapp aus – erlebte die Schweiz den ersten Frauenstreik, an dem eine halbe Million Frauen auf die Strasse gingen. Im darauffolgenden Oktober wurden wir beide in den Nationalrat gewählt, ich damals noch auf der unabhängigen Frauenliste Frauen macht Politik! (FraP).
Die Bundesratswahl 1993
Nach einer Schlammschlacht erlebte Christiane Brunner am 3. März 1993 ihre wohl grösste Niederlage. Sie war die offizielle Kandidatin der SPFraktion für den Bundesrat. Doch die Bundesversammlung wählte einen SP-Mann. Die zuvor medial befeuerte Dreckkampagne war klassistisch und sexistisch zugleich, ein Angriff auf eine Frau aus der Unterschicht und eine beispiellose Verunglimpfung einer Feministin. Sogar ihr herzliches Lachen wurde ihr zum Vorwurf gemacht. Die Elite in Bundesbern ahnte nicht, was darauf folgen würde: Die Frauenstreikbewegung trug Früchte. Landesweite Proteste über die Parteigrenzen hinweg erschütterten die Schweiz und manifestierten sich lautstark vor dem Bundeshaus.
Der gewählte Francis Matthey erklärte nach einer Bedenkzeit die Nichtannahme der Wahl. Sieben Tage später wurde Ruth Dreifuss als erste linke Frau in die Landesregierung gewählt. Christiane und Ruth waren als «Zwillingsschwestern» angetreten, eine symbolisch clevere, aber für viele Frauen nicht überzeugende Inszenierung. Viele hätten sich lieber ein Festhalten an der glaubwürdigen Christiane Brunner als alleiniger Kandidatin gewünscht.
Bei den nationalen Wahlen 1995 wurde Christiane problemlos in den Ständerat gewählt, dem sie bis 2007 angehörte. Danach wurde es ruhiger um sie. Gesundheitliche Probleme machten ihr zu schaffen, und der Tod ihres Lebenspartners Jean Queloz vor vier Jahren stürzte sie in eine tiefe Depression. Von diesem Verlust erholte sie sich nicht mehr wirklich.
Die Gewerkschaften richten sich neu aus
Ihr Vermächtnis ist von grosser Bedeutung für den Feminismus in der Schweiz. Davon zeugen der Frauenstreik vom 14. Juni 2019 und die verstärkte Ausrichtung der männerdominierten Gewerkschaftsbewegung auf die Arbeits- und Lebensverhältnisse von Frauen.
Christiane Brunner war kreativ, ideenreich und hatte ein feines Gespür für notwendige Veränderungen. So wurde sie auch zur Wegbereiterin für die Gründung der grössten Gewerkschaft der Schweiz, der Unia. Bereits 1996 gründete sie gemeinsam mit Vasco Pedrina, damals Präsident der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI), die «kleine Unia». Sie wollten so die Arbeitnehmenden im wachsenden Dienstleistungssektor besser organisieren und vertreten, allen voran Frauen im Gastgewerbe und Verkauf, die oft in prekären Teilzeitverhältnissen angestellt waren. Vasco Pedrina und Christiane Brunner teilten sich von 1994 bis 1998 auch das SGB-Präsidium.
Grosse Verdienste um die SP Schweiz
Die SP Schweiz verdankt Christiane Brunner sehr viel. Sie führte die Partei zur Jahrtausendwende aus einer ihrer grössten internen Krisen. Im Parteisekretariat herrschte dicke Luft, persönliche Animositäten und Intrigen vergifteten das Klima und Exponent:innen der Partei aus Bundesbern befeuerten die Konflikte in den Medien, was schliesslich zum abrupten Rücktritt der damaligen Parteipräsidentin Ursula Koch führte. Es gab nur eine, die das Vertrauen aller genoss und die Gräben überbrücken konnte: Christiane Brunner. Sie stellte sich als Parteipräsidentin zur Verfügung und wurde am Parteitag in Lugano im Oktober 2000 glanzvoll gewählt. In den darauffolgenden vier Jahren erneuerte sie die Parteistrukturen und brachte mit Micheline Calmy-Rey eine zweite SP-Frau in den Bundesrat.
Was bleibt nach dem Tod von Christiane? Wir erinnern uns an eine gradlinige Frau, die – wenn sie von einer Idee oder von einem politischen Projekt überzeugt war, – dieses beharrlich verfolgte. Sie war Türöffnerin für zahlreiche Frauen, die sie in ihrem Werdegang unterstützte und denen sie den Weg in Entscheidungspositionen ebnete. Unvergessen bleiben ihre Empathie und ihre Warmherzigkeit. Diese durften auch ihre Weggefährt:innen erfahren, die sie spontan und unkompliziert in ihre grosse Patchwork-Familie einbezog.
Öffentliche Gedenkfeier für Christiane Brunner
Am 12. Juni lädt die SP Schweiz in Bern zu einer öffentlichen Gedenkveranstaltung ein, zu der alle, die sich Christiane Brunner verbunden fühlen, herzlich eingeladen sind. Die Details zur Veranstaltung werden nach Bekanntwerden auf dieser Website publiziert.
Zur besseren Planung bitten wir um eine Anmeldung.