Von Pia Wildberger
Michèle Zwicky erinnert sich noch genau daran, wie sie auf Facebook einen Notruf absetzte. Hinter der jungen Mutter und Detailhandelsangestellten lagen Monate der Verzweiflung. Ihre vierköpfige Familie wurde vom Vermieter regelrecht drangsaliert. Die Situation eskalierte, als sich dieser täglich im Haus vor der Wohnung aufhielt und die Mieterschaft belästigte. Zwar meldete Michèle Zwicky dies der Polizei. «Aber es ging nicht mehr», erinnert sie sich mit Grauen an jene Tage.
Familie Zwicky hatte Glück: Erich Wegmann hörte von der unhaltbaren Situation. Der Gewerkschafter ist in der 5000-Seelen-Gemeinde Elgg der Mann für alle Fälle. Er sass für die SP im Gemeinderat, organisierte mit dem lokalen Gewerbe die Gewerbeausstellung. Zusammen mit der halben Bevölkerung von Elgg baute er die längste Murmelbahn der Welt, um es damit ins Guinness-Buch der Rekorde zu schaffen. Und Wegmann gründete zusammen mit alt Kantonsrat Bernhard Egg die WAK, die lokale Genossenschaft für Wohnen, Arbeit und Kultur. Diese verfügt über 48 Wohnungen und 15 Gewerberäume. «Die Wohnungen im Bärenhof waren soeben fertig gebaut», erinnert er sich. Für Familie Zwicky zeichnete sich ein Happyend ab.
Doch fast wäre daraus nichts geworden. «Die neue 3½-Zimmer-Wohnung kostete brutto 2000 Franken – zu viel für uns», erinnert sich Michèle Zwicky.
Günstige Genossenschaften
Wohnungen von Genossenschaften sind im Schnitt 25 Prozent billiger als diejenigen von kommerziellen Vermieter:innen. Das stellte das Bundesamt für Wohnungswesen bereits 2017 in einer Studie fest. In den Städten Zürich und Genf kosten renditeorientierte Mietwohnungen gar 40 bis 50 Prozent mehr.
Der Grund für die tieferen Mieten in Genossenschaften ist einfach: Genossenschaften verlangen eine Kostenmiete, die bloss die tatsächlich anfallenden Kosten deckt und Rückstellungen erlaubt.
Anders viele kommerzielle Vermieter:innen: Für sie zählt letzten Endes nur der Profit. Viele pressen die maximale Rendite aus den Mieter:innen. Und auch Mietsenkungen, die bei sinkendem Referenzzinssatz gesetzlich vorgeschrieben sind, geben viele nicht weiter. Bei jedem Mieterwechsel wird zudem einfach rechtswidrig die Miete um einige hundert Franken erhöht. So bezahlen Mieter:innen heute jeden Monat durchschnittlich 340 Franken zu viel, wie das Büro Bass im Auftrag des Mieter:innenverbands berechnete. Vermieter:innen streichen so jedes Jahr zehn Milliarden Franken mehr Rendite ein als erlaubt – ohne dafür eine Leistung oder einen Mehrwert zu erbringen.
Die hohen Mieten belasten die Kaufkraft der Menschen massiv – auch die bei Familie Zwicky. Doch zum Glück verfügt die Liegenschaft «Bärenhof» im Zentrum von Elgg nicht nur über zehn Wohnungen, sondern auch über einen Kultursaal, den die Bevölkerung für Geburtstagsfeste, Konzerte oder Ausstellungen günstig mieten kann. Michèle Zwicky übernahm für die WAK die Verwaltung des Saals. So liess sich die Miete auf erträgliche 1700 Franken reduzieren. «Ich bin unglaublich dankbar, dass wir die Situation so lösen konnten.»
«Wo-Wo-Wohnige!»
In den Ohren der 8000 Mieter:innen, die Anfang April in Zürich mit dem Slogan «Wo-Wo-Wohnige» gegen die Wohnungsnot demonstrierten, mag das märchenhaft klingen. Doch die Wohnungssituation ist auch in Elgg alles andere als idyllisch. Die Leerwohnungsziffer beträgt 0,5 Prozent und liegt damit deutlich unter dem Schweizer Durchschnitt.
Kein Wunder: Die Gemeinde in den Stammlanden der SVP liegt weniger als 15 S-Bahn-Minuten von Winterthur entfernt. Die Wohnungskrise ist darum längst auch in Elgg angekommen und hat sich in den letzten Monaten weiter verschärft. «Seit über einem Jahr führen wir nun Wartelisten. Das war früher nicht nötig», sagt Erich Wegmann.
So geht Lokalpolitik
Trotz dem konservativen Umfeld: Erich Wegmann und Bernhard Egg ist mit dem Aufbau der Genossenschaft WAK in den letzten 25 Jahren ein Stück Gemeindepolitik gelungen, das so nicht geplant war. Am Anfang standen nicht günstige Mieten im Vordergrund, sondern der Wunsch, das Dorf mitzugestalten. Sie wollten mit einem Verein das Kulturleben des Landstädtchens mit der denkmalgeschützten Altstadt, den Fachwerkhäusern und einer Industriebrache aufmischen.
Eines führte zum Nächsten
Damit der Claro-Laden sein Ladenlokal behalten konnte, kaufte der Verein kurzerhand das Haus. Als später eine Bank anklopfte und dort eine Filiale eröffnen wollte, verkaufte der Verein das Gebäude und legte mit dem Erlös den Grundstein für die Gründung der Genossenschaft. Mit dem Geld kaufte die Genossenschaft im Dorfkern dann das erste Haus, den Ochsen – und rettete einmal mehr den Claro-Laden. «Es war ein politischer Entscheid, Immobilien zu kaufen, um so Einfluss auf die Entwicklung des Dorfes zu nehmen», erinnert sich Erich Wegmann.
Heute, ein Vierteljahrhundert später, besitzt die WAK zwölf Liegenschaften, darunter zwei Restaurants – und fördert immer noch das Kultur- und Vereinsleben im Dorf. Sie zählt 220 Mitglieder und bietet rund 100 Menschen günstigen Wohnraum, darunter auch Geflüchteten. Eine Drei-Zimmer-Wohnung kostet im Durchschnitt rund 1400 Franken.
Es sind Mieten, die sich die Leute leisten können, weil niemand sich daran bereichert. Stattdessen ermöglichen Genossenschaften die Entwicklung von Gemeinschaften und Gemeinden. Oder wie es Nationalrätin und Vorstandsmitglied beim Mieter:innenverband Jacqueline Badran sagt: «Genossenschaften sind das beste Rezept gegen die Ausbeutung der Mieter:innen.»
Liegenschaften gesucht
Was braucht es, damit eine Genossenschaft entstehen kann? «Vor allem engagierte Menschen», sagt Erich Wegmann. Er und Bernhard Egg legten anfänglich bei den Renovationen sogar selbst Hand an. Die Geld- und Immobiliensuche ist hartes Brot. «Man muss auf die Leute zugehen, das Verständnis für die Genossenschaft wecken und die Möglichkeiten aufzeigen.» Das ist Knochenarbeit – zumal die Genossenschaft für neue Objekte «nicht jeden Preis bezahlen kann».
Bauland gibt es kaum, und die Immobilienpreise sind auch in Elgg massiv gestiegen. Die WAK bekommt den Zuschlag bloss, wenn die Rendite nicht im Vordergrund steht, weil man im Dorf lieber «eine Beiz für die Vereine als einen Sushi-Tempel hat». Wenn dann trotz allem ein Objekt an einen Spekulanten mit Sitz in Zug geht, «tut es mir im Herzen weh», so Erich Wegmann.
Das liebe Geld
Jedes Projekt muss neu finanziert werden, und auch Genossenschaften müssen Eigenmittel vorweisen, um von Banken eine Hypothek zu erhalten. Zinsgünstige Darlehen der öffentlichen Hand, Darlehen von Stiftungen und Anteilscheine von Mitgliedern reichen nicht immer. Auch bauen Genossenschaften nicht günstiger. «Es ist ein steter Krampf!», sagt Erich Wegmann.
Neuen Schub erhielt die Finanzfrage, als die Nationalbank Negativzinsen einführte: Die Genossenschaft verzinst die Darlehen von Privatpersonen mit jährlich ein bis zwei Prozent, je nach Laufzeit. Etliche Elgger:innen liehen der Genossenschaft fortan erhebliche Summen. Bei einer Bilanzsumme von rund 20 Millionen Franken hat die WAK heute private Darlehen von vier Millionen Franken in den Büchern. «Die Negativzinsen waren hilfreich», sagt Erich Wegmann rückblickend. Er freut sich noch heute darüber, dass es der WAK gelungen ist, so einige Immobilien der Profitlogik und Gier der Immobilienwirtschaft zu entziehen. «So überwinden wir den Kapitalismus», sagt WAK-Mitgründer Bernhard Egg. «Wir kaufen ihn einfach auf.»
Mieter:innen entlasten - Immobilienlobby stoppen
Mieter:innen zahlen jährlich 10 Milliarden Franken mehr Miete, als es das Gesetz erlaubt. Die Immobilienlobby sorgt mit ihrem Einfluss dafür, dass die Mieten ständig steigen und ihre Gewinne wachsen. An unserer Tagung zum Thema Wohnen – mit Nationalrätin Jacqueline Badran, Nationalrat Christian Dandrès und Immobilienexperte Philippe Thalmann – analysieren wir gemeinsam die Lage und überlegen, wie wir die Mietexplosion und die überhöhten Boden-Renditen stoppen können.
Wann und wo: 30. August 2025, 13 – 17.30 Uhr, Kongresszentrum Biel