Ein Lob auf die Freiheit, trotz Dürrenmatt und Dostojewski

Matthias Aebischer, Nationalrat BE

Matthias Aebischer, Nationalrat BE
1.-August-Rede in Wynigen BE und in Heitenried FR

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

An meiner 1.-August-Ansprache vor einem Jahr im freiburgischen Bösingen habe ich die 1.-August-Rede aus kommunikationstechnis​cher Sicht analysiert. Ich bin zum Schluss gekommen, dass sie für eine tolle 1.-August-Feier eigentlich ein Unding darstellt aber eben doch ein Muss ist. Meist einige hundert oder auch tausend Leute feiern in einem Dorf oder einer Stadt den Schweizer Nationalfeiertag, den 1. August. Mitten in diese ausgelassene Feier mit Bier, Wein, Gesang und Musik platzt dann die Festrednerin oder der Festredner, mit einer meist etwas langweiligen Festansprache, der die meisten zu fortgeschrittener Stunde kaum mehr folgen wollen oder können.

Aber eben, die Rede gehört dazu, zur 1.-Augustfeier.

Als langjähriger Radio- und Fernsehmann weiss ich, dass man mit der Kürze einer solchen Rede die Langeweile in Grenzen halten kann. So kann ich Ihnen versichern. Meine Rede ist kurz und trägt den Titel „Ein Lob auf die Freiheit – trotz Dürrenmatt und Dostojewski“. Seit gut anderthalb Jahren sitze ich nun im nationalen Parlament dieses Landes. Die Arbeit gefällt mir sehr gut. Auch wenn mir einige Leute Langweile prognostiziert haben, dem ist nicht so. Die detailreichen Gesetzesberatungen und die politischen Entscheidungsfindung sind interessant. Ich darf mitprägen und mitgestalten und erhalte so einen optimalen Einblick in die politische Entwicklung der Schweiz, die Entstehung oder Änderung der Schweizer Gesetzgebung und nicht zuletzt auch in die Wertediskussion in der Schweiz.

Und ich sage Euch: es läuft gut.

Wir feilschen auf hohem Niveau. Wir diskutieren nicht, ob wir den Tourismus, den Weinbau, die Landwirtschaft oder die Kultur unterstützen, sondern nur wie stark wir wen unterstützen und in regelmässigen Abständen, mit welchen zusätzlichen Mitteln wir unterstützen. Wir diskutieren nicht, ob wir alle vier Jahre mehr oder weniger Geld in die Bildung investieren – sondern nur noch wieviel mehr wir in die Bildung investieren. Das ist gut so. Wer in einem solchen Land lebt, dem geht es gut. Wir leben in einem selbständigen, freien, demokratischen, wirtschaftlich prosperierenden und zugleich sozial gerechten Staat. Geniessen wir es und gehen zurück zu den Festivitäten. Ich wünsche einen schönen Abend.

So kurz ist sie nicht meine Rede. Und so einfach geht es natürlich nicht. Reicht es am 1. August zu sagen, dass in der Schweiz alles zum Besten steht? Dass die freiheitliche Schweiz einmalig ist, und dass es noch weitere Jahrhunderte so weitergehen soll? Ich glaube, gerade am 1. August darf man auch einen Schritt weiter gehen. Ist die uns so wichtige Freiheit das Endziel, das wir erreicht haben? Ist die Freiheit die Erlösung? Oder birgt die Freiheit auch Gefahren, welchen wir erkennen und ihnen entgegentreten sollten? Das vorhin beschriebene Ideal eines Staates „selbständig, frei, demokratisch, wirtschaftlich prosperierend und zugleich sozial gerecht“, dieses Ideal ist ein Zitat von Friedrich Dürrenmatt. Er beschrieb es im Herbst 1990 in einer Rede anlässlich der Gottlieb-Duttweiler-P​reisverleihung an den damalige tschechoslowakische Ministerpräsident Václav Havel. Dürrenmatt verglich die freiheitliche Schweiz mit den Gefängnissen, in welche der Freiheitskämpfer Havel in den 70er-Jahren gesteckt wurde.

Dürrenmatt verglich also die Schweiz mit einem Gefängnis, in das sich die Schweizer geflüchtet hätten. Friedrich Dürrenmatt formulierte das so: „Weil alles ausserhalb des Gefängnisses übereinander herfiel und weil sie nur im Gefängnis sicher sind, nicht überfallen zu werden, fühlen sich die Schweizer frei, freier als alle andern Menschen, frei als Gefangene im Gefängnis ihrer Neutralität.“ Sie können sich vorstellen, dass in der Schweiz Anfangs Neunzigerjahre nach dieser Rede ein Raunen durchs Land ging. Anwesende Bundesräte hätten Dürrenmatt nach dieser Rede nicht einmal mehr die Hand gereicht, erfahre ich aus Zeitungsartikel von damals.

Dürrenmatt sagte damals also, dass die Schweiz ein Gefängnis sei und nicht ein Hort der Freiheit. Oder, dass ihm das zumindest niemand beweisen könne. Und Zitat: „Nun wissen wir nicht, was wir feiern sollen, das Gefängnis oder die Freiheit.“ Für mich ist klar, was wir heute feiern – und auch in Zukunft feiern müssen „die Freiheit“. Doch, so glaube ich – und das war wohl auch der Fokus von Dürrenmatt damals – müssen wir lernen, mit der Freiheit umzugehen.

Die Freiheit wollen ist einfach, sie dann zu ertragen ist etwas anderes.

Ein Bekannter von mir hat sich dieser Grundsatzproblematik angenommen und versucht die Leute zu sensibilisieren. Dazu fährt er mit einem APE, einem dreirädrigen italienischen Miniauto, von Stadtfest zu Stadtfest, von Dorfplatz zu Dorfplatz. Er hat sich zum Ziel gesetzt, den Leuten aufzuzeigen, dass sie frei sind.

Frei in der Schweiz?! Das tönt ziemlich abstrus, aber, so glaube auch ich, es ist gar nicht so weit hergeholt. Offiziell sind wir Schweizerinnen und Schweizer zwar frei. Wieviele Schweizerinnen und Schweizer stecken jedoch in irgendwelchen Zwängen, sind nur am Reagieren und nicht am Agieren, sind auf der Suche nach der Freiheit. So tönt es etwa: „Ich kann halt nicht wie ich will, ich habe Familie und kann jetzt nicht … „ oder „Ich bin eingespannt. Mein Job lässt das nicht zu …“ oder „Ich kann doch nicht mitten im Leben alles umkrempeln …“. Wir sind frei, haben die Freiheit aber auch die Mühe, damit umzugehen.

Mit ähnlich klaren Worten wie Dürrenmatt hat sich auch der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewksi zum Thema geäussert. Im Buch „Die Brüder Karamasov“. So lässt er den spanischen Grossinquisitor erklären, weshalb die Menschheit nichts mit der Freiheit anzufangen weiss. Der Grossinquisitor ist wütend. Denn er spricht zu Jesus, der es wagte, mit denselben Ideen auf die Erde zurück zu kommen, wie 16 Jahrhunderte vorher. Er sagt: „Du willst unter die Menschen treten und kommst mit leeren Händen, mit der Verheissung einer Freiheit, die sie in ihrer Einfalt und als geborene Unruhestifter nicht einmal erfassen können, vor der sie sich fürchten und zurückschrecken – denn es gab noch nie etwas Unerträglicheres für den Menschen und die menschliche Gesellschaft als die Freiheit.“ Jesus lässt sich durch die Rede des Grossinquisitors nicht aus der Ruhe bringen. Als Antwort auf die Tirade küsst er den Grossinquisitor und entkommt so dem Tod auf dem Scheiterhaufen. Die Freiheit als Gefängnis bei Dürrenmatt, die Freiheit als das Unerträglichste überhaupt bei Dostojewski.

Und wir wollen heute die Freiheit feiern?

Aber sicher doch!! Wir müssen einfach lernen, mit ihr umzugehen. Das ist sicher nicht einfach aber müsste ein Ziel sein. Ich komme zurück zu meinem Bekannten, der mit seinem APE von Stadt zu Stadt und Dorf zu Dorf fährt. Mit gwundrigen Leuten sitzt er dann zusammen und macht mit Ihnen eine Art Verfassung, welche das Selbstsein, das Leben der Freiheit in einigen Punkten festhält.

So schrieb zum Beispiel eine Frau mittleren Alters in ihre Verfassung: „Die Welt verändern heisst, sich selbst verändern. Ich gehe wieder vermehrt in die Natur, in den Wald, an den Fluss. Ich sage vermehrt „Nein“ – und – und ich suche mir einen Tanzpartner und gehe wieder tanzen.“ Das tönt ziemlich einfach, kann für das Leben der Freiheit aber ziemlich entscheidend sein. Ein etwas jüngerer Mann beschreibt seine Freiheitsgrundsätze so: „Glück führt über die Liebe zu sich selbst. Dies ist allzeit zu respektieren. Ich lasse mir keinen gesellschaftlichen Druck aufzwingen. Wenn ich etwas nicht will, dann mache ich es auch nicht.“ Auch das tönt prima vista ziemlich banal, ist es aber nicht. Es sind Grundsätze, welche den Umgang mit der Freiheit einfacher gestalten sollen.

Wir deklarieren uns selber als frei und selbstverantwortungsv​oll. Doch sind wir es auch? Stellen Sie sich diese Frage doch einmal grundsätzlich. Sie müssen ja nicht warten, bis mein Bekannter mit dem APE in ihrem Dorf vorbei kommt. Sie dürfen sich diese Frage auch selbst stellen – vielleicht nicht gerade heute Abend, aber vielleicht morgen, übermorgen – einfach nicht vergessen! Denn ansonsten bekommen Dürrenmatt und Dostojewski doch noch Recht.

Wer die Freiheit leben will muss aktiv werden, muss positiv formulieren, agieren und nicht reagieren. Das ist etwas vom Schwierigsten, gerade hier in der Schweiz in unserer freien, demokratischen, selbständigen, wirtschaftlich prosperierenden und zugleich sozial gerechten Schweiz.

Leben Sie die Freiheit, nicht nur heute am 1. August, sondern immer, oder zumindest immer öfter. Ein Lob auf die Freiheit, trotz Dürrenmatt und Dostojewski.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.

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