Von Cédric Wermuth, Nationalrat und Co-Parteipräsident
In den letzten Jahren haben immer mehr Kantone und Städte kantonale beziehungsweise kommunale Mindestlöhne beschlossen, oder es sind entsprechende Initiativen unterwegs. Der Grund: Gesetzliche Mindestlöhne sind ein wirksames Mittel zur Armutsbekämpfung. Wer voll arbeitet, soll von seinem Lohn leben können.
Angriff auf demokratische Abstimmungsergebnisse
Den bürgerlichen Parteien SVP, FDP und Mitte waren diese linken Erfolge bei kantonalen und kommunalen Abstimmungen von Beginn weg ein Dorn im Auge. Sie folgen hier einmal mehr dem Ruf der Arbeitgeberverbände: Diese bekämpfen die Mindestlöhne in den Städten mit Einsprachen – sogar wenn die Zustimmung an der Urne gross war. Dabei wiederholen sie mantramässig, Mindestlöhne seien schädlich für die Wirtschaft und Jobkiller.
Wie vorgeschoben und falsch diese Argumente sind, zeigt nicht nur die Forschung, sondern auch eine kürzlich erschienene Zeitungsrecherche. In der zuständigen Parlamentskommission offenbarte der Arbeitgeberpräsident Roland A. Müller den wahren Grund für den Angriff auf die Mindestlöhne: Löhne sollen nicht zum Leben reichen und nicht existenzsichernd sein müssen. Mit anderen Worten: Arbeitgeber sollen mit ultratiefen Löhnen Menschen ausbeuten und ihre Profite maximieren können, während die Allgemeinheit am Schluss via Sozialhilfe dafür bezahlt.
Nationalrat will Mindestlöhne per Gesetz aushebeln
Trotz grossem Aufschrei in der Bevölkerung liess sich die bürgerliche Mehrheit im Nationalrat nicht beeindrucken. Sie hat in der Frühlingssession ein Gesetz beschlossen, mit dem zufolge Mindestlöhne in Kantonen und Gemeinden nicht mehr gelten sollen – obwohl das Volk sie gutgeheissen hat und selbst der rechts dominierte Bundesrat dieses Lohnsenkungsgesetz als verfassungswidrig bezeichnet und es gemeinsam mit 25 von 26 Kantonen ablehnt. Da die Vorlage auf einem Vorstoss von Mitte-Ständerat Erich Ettlin basiert, ist davon auszugehen, dass die kleine Kammer im Herbst das Gesetz definitiv beschliesst. Ab dann läuft die Referendumsfrist, in der in 100 Tagen 50 000 gültige Unterschriften gesammelt werden müssen.
Die Auswirkungen wären brutal
Sollte die Vorlage durchkommen, hätte das reale Lohnsenkungen für Angestellte zur Folge. Bei den kantonalen Mindestlöhnen betrifft das Gesetz vor allem die Kantone Genf und Neuenburg. Beispielsweise würde im Kanton Genf, wo heute ein Mindestlohn von knapp 24.50 Franken pro Stunde gilt, eine gelernte Coiffeuse mit zwei oder drei Jahren Berufserfahrung bis zu 250 Franken im Monat verlieren. Eine angelernte Mitarbeiterin in der Textilreinigung sogar 300 Franken. Auch im Gastgewerbe würden Angestellte bis zu 300 Franken weniger verdienen. Tiefstlöhnerinnen und Tiefstlöhner, die bereits heute jeden Monat kämpfen müssen, um am Ende Krankenkassenprämien und Miete bezahlen zu können, wären somit die massgeblich Betroffenen. Faktisch wäre es das erste Lohnsenkungsgesetz in der Schweiz seit 1848.
Abzockerlöhne seit Jahren unangetastet
Während tiefe Löhne per Gesetz gesenkt werden sollen, argumentiert die gleiche Mehrheit aus SVP, FDP und Mitte seit Jahren, dass die Beschränkung von Abzockerlöhnen in den Manageretagen aus ordnungspolitischen und marktliberalen Gründen nicht möglich sei. Der Gesetzgeber dürfe sich nicht in die Lohngestaltung eines privatwirtschaftlichen Unternehmens einmischen.
Was für die UBS, Novartis oder die Axpo gilt, gilt nicht für Coiffeusen, Reinigungsmitarbeitende und Gastroangestellte. Diese Ungleichbehandlung und Missachtung hart arbeitender Menschen, die jeden Franken zweimal umdrehen müssen, um über die Runden zu kommen, ist verantwortungslos.
Die Aufgabe der SP wird es sein, dieses Gesetz mit aller Kraft per Referendum zu bekämpfen.