Ein Zentralereignis unserer Geschichte

Ich möchte mit drei persönlichen Erlebnissen beginnen. Es ist rund 35 Jahre her, als mich in Sargans ein paar ältere Gewerkschafter ins Vertrauen zogen. Pensionierte Eisenbahner. Fast konspirativ zeigten sie mir den verbliebenen Rest ihrer Arbeiterbibliothek. Er hatte in einer Kiste Platz. Das wichtigste Stück dieser Schatzkiste waren die beiden Bände über den Militärgerichtsprozess gegen das Oltner Generalstreik-Komitee mit dem Titel „Landesstreik vor Kriegsgericht“.

Ich möchte mit drei persönlichen Erlebnissen beginnen.

Es ist rund 35 Jahre her, als mich in Sargans ein paar ältere Gewerkschafter ins Vertrauen zogen. Pensionierte Eisenbahner. Fast konspirativ zeigten sie mir den verbliebenen Rest ihrer Arbeiterbibliothek. Er hatte in einer Kiste Platz. Das wichtigste Stück dieser Schatzkiste waren die beiden Bände über den Militärgerichtsprozess gegen das Oltner Landesstreik-Komitee mit dem Titel „Landesstreik vor Kriegsgericht“. Ich sah diese schönen und auffälligen Bücher damals zum ersten Mal. Ohne grosse Worte machten mir die Sarganser Gewerkschafter mit dieser Geste des Vertrauens klar, wie sehr sie sich mit den streikenden Eisenbahnern von 1918 verbunden fühlten.

Meine zweite Erinnerung geht zurück zum 11. November 1998. In Grenchen gab es damals zum ersten Mal überhaupt einen grösseren Gedenkanlass zum Landesstreik. Grenchen ist ein besonderer Ort. Es ist die Stadt, in der im November 1918 drei Arbeiter erschossen wurden. Lange Jahre war die Erinnerung an dieses schreckliche Ereignis verdrängt worden. Der Saal des Löwen vibrierte. Ein Hinweis darauf, wie tief das Trauma von 1918 im kollektiven Gedächtnis der Stadt weiterlebte. Was war damals geschehen? Der Landesstreik war schon abgebrochen, als die Armee in Grenchen eine Menschenmenge mit scharfer Munition zerstreute und drei Arbeiter erschoss. Den 29jährigen Hermann Lanz, den 17jährigen Marius Noirjean und den 21jährigen Fritz Scholl. Mit Schüssen von hinten, auf eine Distanz von wenigen Metern, ein von hinten zertrümmerter Kopf, ein Opfer mit den Händen in den Hosentaschen. Eine Gedenktafel für diese Morde hat Grenchen erst vor neun Jahren angebracht. Verbunden mit einer eindrücklichen Ausstellung im städtischen Museum. 

Ganz anders gelagert ist meine dritte Erinnerung. Es war die Abdankungsfeier eines überaus bürgerlichen ehemaligen CVP-Regierungs- und Ständerats vor drei Jahren. Den kurzen Lebenslauf hatte der Verstorbene selbst verfasst. Eine seiner prägendsten Jugenderinnerungen seien die Erzählungen seines Vaters über den Landesstreik gewesen. Er war als Ostschweizer gegen die Streikenden in Zürich aufgeboten worden. 

Egal wo die Menschen 1918 politisch standen: der Landesstreik grub sich tief in ihre Emotionen ein. Mit Nachwirkungen bis heute. Der Landesstreik ist prägend für die Geschichte unseres Landes. Das ist auch der Grund, weshalb wir hier sind und das Jubiläumsjahr heute mit dieser Tagung eröffnen.  

In der Linken waren der Landesstreik und seine Bewertung von Anfang an kontrovers. Die einen verdrängten ihn. Andere beurteilten ihn wegen des bedingungslosen Streikabbruchs als Niederlage. Oder gar als Verrat an den Streikenden. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass der Historiker Willi Gautschi, der kein Linker war, 1968 der erste war, der den Landesgeneralstreik in seinen grossen Zusammenhängen und seiner Bedeutung beschrieb. Bis heute ist sein Werk wegweisend und höchst lesenswert. Für ihn war der Landesstreik das wichtigste innenpolitische Ereignis des 20. Jahrhunderts.

Der Landesstreik ist für die Linke wohl deshalb so schwer fassbar, weil Sieg und Niederlage darin so untrennbar miteinander verquickt sind. Das Ende des Streiks am 14. November war unmittelbar eine Niederlage. Nach dem Armeeeinsatz gegen die Streikenden drohten bürgerkriegsähnliche Vorgänge. Das Oltner Komitee hatte die Weisheit, den Streik abzubrechen, um ein Blutvergiessen zu vermeiden. Auch wenn es, wie es damals hiess, zum Heulen war. Die Kraftprobe war verloren. Aber bereits mit den militärischen Gerichtsverfahren gegen die Streikleitung – das Oltner Komitee – wendete sich das Blatt. Der Prozess wurde zur grossartigen Bühne für die Führung der Arbeiterbewegung und ihre Verteidiger. Die Streikführer gingen als moralische Sieger aus dem Verfahren hervor. Das Oltner Komitee hatte sein Ansehen wiedergewonnen, das es durch den Abbruch des Streiks verloren hatte. Die geballte Wucht der Reden beeindruckt noch heute. Nachzulesen übrigens in den beiden Bänden, die mir die pensionierten Sarganser Eisenbahner vor 35 Jahren zeigten. 

Noch beeindruckender aber als der Prozess waren die politischen Folgen des Landesstreiks. Der Achtstundentag war seit 1890, seit der 1. Mai als Kampf- und Feiertag ins Leben gerufen worden war, DIE politische Kardinalforderung der Arbeiterbewegung. Nach dem Landesstreik wurde die Wochenarbeitszeit auf einen Schlag von damals 54 bis 59 Stunden auf 48 Stunden herabgesetzt. Der Achtstundentag, bei damals noch sechs Arbeitstagen, war realisiert. So etwas gab es vorher und nachher nie mehr. Es folgten zahlreiche sozialpolitische Reformen. Im Nachhinein sprach vom „sozialpolitischen Galopp“ der 1920er-Jahre. 

Der Landesstreik schrieb mit seinen Forderungen das Programm für den Fortschritt der Schweiz des 20. Jahrhunderts. Auch wenn es noch lange Jahrzehnte dauerte, bis seine zentralen Programmpunkte realisiert wurden: die Einrichtung der AHV und noch viel später das Frauenstimmrecht. Mit dem Landesstreik hatte sich die Arbeiterbewegung ihre Anerkennung erkämpft. Gesamtarbeitsverträge waren ein wichtiges Ergebnis davon. Und mit Verzögerung auch der Einzug der Sozialdemokraten in den Bundesrat.

Jungen Menschen von heute ist der Antimilitarismus der Linken manchmal nur schwer zu erklären. Der tiefverwurzelte Antimilitarismus der Arbeiterbewegung geht letztlich auf die Erfahrungen jener Jahre zurück. Während des Landesstreiks war es Emil Sonderegger, der scharfmacherische Platzkommandant von Zürich, der mit dem Einsatz von Handgranaten drohte. Sonderegger, der später Frontist wurde. Erst angesichts der Bedrohung durch Faschismus und Nationalsozialismus fand die Armee auch die Unterstützung der Linken. 

Durch den Landesstreik wurde auch das Verhältnis von Arbeitern und Arbeiterinnen auf der einen Seite und Bauern auf der anderen schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die Bauern bezogen Front gegen die streikende Arbeiterschaft. Das hatte Folgen durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch und ist bis heute spürbar.

Der Landesstreik war ein politischer Streik. Und er stand auf dem Boden der Demokratie. Zentrale Streikforderungen verlangten nichts anderes als die Herstellung und die Stärkung demokratischer Verhältnisse. Sie forderten den Proporz und das Frauenstimmrecht. Hätten die Streikenden das Frauenstimmrecht damals durchsetzen können, wäre die Schweiz in dieser Frage nicht zum europäischen Schlusslicht geworden. 

Der Landesstreik reiht sich ein in die zentralen Wendepunkte der neueren Schweizer Geschichte. 

Die moderne Schweiz beginnt mit dem Jahr 1798. Mit der Beseitigung der jahrhundertealten Untertanenverhältnisse. Die Helvetik eröffnete für die Schweiz eine vollkommen neue Zeitrechnung. 
Die Werte von Freiheit und Gleichheit setzten sich definitiv durch mit dem Bundesstaat von 1848, der einzigen erfolgreichen Revolution in Europa in diesen Aufbruchsjahren. 
1918 steht der Landesstreik für den sozialen Aufbruch der Schweiz. Er schreibt das Programm für den Fortschritt im 20. Jahrhundert. 

Es ist vielleicht riskant, Ereignisse, die man selbst miterlebt hat, als wichtige Wendepunkte der Geschichte zu bezeichnen. Zu nahe ist man drauf. Ich versuche es dennoch. Der Aufbruch von 1968 und der Frauenstreik von 1991 waren ebenfalls wichtige Wendepunkte. Sie schreiben die Geschichte der modernen Schweiz fort, die 1798 begann und 1848 und 1918 ihre Fortsetzung fand.

Ich möchte schliessen mit der Erwartung, dass diese Tagung zum Beginn einer neuen Beschäftigung mit dem Landesstreik wird. Einer Beschäftigung mit dem Ansatz, aus unterschiedlichen Perspektiven auf dieses Zentralereignis unserer Geschichte zu blicken. Die Zeit, als die Arbeiterinnen und Arbeiter zum politischen Subjekt wurden, soll 2018 wieder lebendig werden, vielstimmig, multiperspektivisch.

Die Arbeiterbewegung war eine Bewegung von unten, eine Bewegung armer Frauen und Männer, die ihr Schicksal selber in die Hand nahmen. Es ist nicht die Geschichte grosser Männer, sondern eine Geschichte der vielen an den unterschiedlichsten Orten. Eine Geschichte der Menschen in ihrer Vielfalt und ihrer Widersprüchlichkeit.

In diesem Sinne wünsche ich uns eine spannende Tagung und ein ebenso spannendes Jahr, das ein für Schweiz so zentrales Ereignis im kollektiven Bewusstsein wieder lebendig werden lässt.

Eröffnungsrede der Landesstreik-Veranstaltung des SGB vom 15.11.2017 in Bern

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